Schulgeschichte – John F. Kennedy Schule Esslingen

Eine deutsche Geschichte

Es mag manchem wie eine Entgleisung anmuten, wenn wir der Festschrift für eine berufliche Schule, die den Namen des 35. US-Präsidenten trägt, den Titel „Eine deutsche Geschichte“ geben. Doch spiegelt unsere Schule gerade auch aufgrund dieses Namens ein typisches Stück deutscher Geschichte unseres Jahrhunderts wider; eines Jahrhunderts, das zugegebenermaßen diverseste Abweichungen vom festgesetzten Kurs erfahren hat.

Schon der Aufstieg Deutschlands zur führenden Wirtschaftsmacht zwischen Gründerkrise und Erstem Weltkrieg fand 1886 seinen Wiederhall in der gleichberechtigten und selbständigen Stellung der kaufmännischen Fortbildungsschule, die bis dato ein Zweig der 1818 gegründeten Gewerbeschule war. Daß das deutsche Bildungswesen mit seinem dualen Bildungssystem und seiner kleinen Armada bestehend aus gewerblichem und kaufmännischem Schulschiff erfolgreich in See stach, zeigt zum einen das starke Wachstum des deutschen Außenhandels dieser Jahre, als auch das stetige Anwachsen der Schülerzahlen unserer Schule. Zum andern dokumentiert die Idee einer kolonialen deutschen Expansion die Bedeutung kaufmännischer Ausbildung in dieser Zeit: Nach englischem Vorbild setzten nämlich in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts Privatleute, besonders Händler diese Idee in die Tat um. Wurden sie zunächst von Bismarck nur geduldet, so unterstützte er später die von ihnen in Form von Handelsgesellschaften betriebene, weil im Volk beliebte Kolonialisierung. Nachdem der Lotse 1890 von Bord gehen mußte, wurde schließlich unter der wilhelminischen Flagge und mit der Losung „Den Deutschen ein Platz an der Sonne“ mit Volldampf voraus Kurs auf ein deutsches Weltreich genommen.

Das Handelsschiff avancierte so zum Zwecke der inneren Einigung des Volkes neben des Kaisers liebsten Kind, der Marine, zum Symbol der 1871 durch militärische Kraftanstrengung nach außen hin geeinten Nation. Nicht viel anders unsere Schule: 1913 fand sie, nachdem sie seit etwa 20 Jahren ohne bleibende Stätte geblieben war, eine feste Bleibe, quasi ihren Heimathafen in der Adlerstraße in Esslingen. Als Gallionsfigur wurde der Handelsschule in analoger Weise das Handelsschiff auf dem Giebel des Daches mit auf die Fahrt gegeben. Die Unterbringung unserer Schule im Esslinger Feuerwehrmagazin erscheint im Rückblick geradezu als ein Vorzeichen auf das sich u.a. durch Aufrüstung, Sendungsbewußtsein und Nationalismus zusammenbrauende Unwetter des 1. und des 2. Weltkrieges. Die schwere See, in die das deutsche Volk blauäugig hineinsegelte, wirkte sich im ersten Weltkrieg auf unsere Schule in Form einer „Notbesatzung“ durch den einzigen nicht eingezogenen Lehrer und durch die Requirierung von Schulräumen aus. Das Donnergrollen des 2. Weltkrieges kündigte sich unter anderem durch Losungen und Luftschutzübungen schon Jahre im voraus an. Während des Krieges signalisierten eine veränderte, vorwiegend weibliche Führungsriege, desweiteren Stundenausfälle wegen Fliegeralarm, der enge Briefkontakt der Schule mit Lehrern und ehemaligen Schülern, die von allen Kriegsschau- und Kriegsgefangenplätzen schrieben, sowie die durch permanenten Kohlemangel erzwungenen „Notferien“ das Abweichen vom gesetzten Kurs. Im einzelnen dokumentiert diese Begebenheiten das Logbuch unserer Festschrift, die Schulgeschichte. Mit den Artikeln über Schulstrafen und über Emanzipation mündet der Strom unserer Schulgeschichte in das Meer zeitgeschichtlich zentraler Themen ein. Durch das beschriebene aus dem Ruder Laufen brach unsere Nation letztlich auseinander. Die zweimalige Havarie veranlaßte die Außenstehenden, vo r allem die Amerikaner, der deutschen Politik eine radikale Kursänderung abzuverlangen: 1917 waren die 14 Punkte Wilsons, 1945 die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz, die Kompaßnadel, die das (westdeutsche) Schiff ins demokratische Fahrwasser manövrieren/ auf Demokratiekurs halten sollte. Die Denazifizierung der Lehrerschaft unserer Schule, die als Mitglieder des NSLB von der alliierten Ortskommandantur bis zur Klärung ihrer NS-Vergangenheit vom Dienst suspendiert wurden, zielte auf eine der Republik verpflichtete Führungs-Crew. Sie sollte Werte wie Freiheit, Individualität, Zivilcourage glaubhaft vorleben und vermitteln. Der Festschriftartikel über unseren Namensgeber führt den Jüngeren unter uns vor Augen, daß und wie John F. Kennedy diese Werte auf sein politisches Banner geschrieben hatte. Wegen seines Schicksals und vor allem wegen seines Einsatzes für demokratische Werte schien er nach der Einweihung des neuen Schulgebäudes in besonderem Maße dazu geeignet, der Jugend ein Vorbild zu sein. Mit seinem Namen am Bug und allgemeinbildenden Fächern wie Ethik, Religion, Kunst und Musik sowie Arbeitsgemeinschaften wie der Theater-AG als Takelage erscheint es uns auch heute noch möglich, anders als in der Weimarer Republik nicht nur die Buchstaben, sondern auch den Geist des Unternehmens „Republik“ zu vermitteln. Einige Kollegen belegen dies in unserer Festschrift, indem sie die Vermittlung dieses Geistes anhand einzelner Fächer exemplarisch darstellen. Daß von der Lehrerschaft der kaufmännischen Berufsschule 1963 als Namensgeber auch der ehemalige US-Außenminister Marshall ins Gespräch gebracht wurde, weist neben dem politischen Neuanfang nach 1945 auch auf die durch den Marshall-Plan verstärkte Westintegration, die nachfolgende Währungsunion und das Wirtschaftswunder der fünfziger und sechziger Jahre hin. Es zeugt zudem auch von einem klaren Bewußtsein der Lehrer über die zweite zentrale Aufgabe ihres Schultyps: Die Mithilfe beim Aufbau und anschließenden Aufstieg der zerstörten und z.T. demontierten deutschen Wirtschaft unter die sieben wichtigsten Industrie- und Handelsnationen der Erde. Eine Voraussetzung für diesen wirtschaftlichen Aufstieg war und ist die Westintegration der Bundesrepublik. Seinen weithin sichtbaren Widerhall fand der wachsende Wohlstand unseres Staates an unserer Schule durch die Planung und Durchführung des Schulneubaus in der Schorndorfer Straße Mitte der fünfziger bis Anfang der sechziger Jahre. Seit Anfang dieses Jahrzehnts dokumentiert der im Interview mit dem Schulleiter erwähnte Ontario-Schulversuch der John-F.-Kennedy-Schule die zunehmende Bedeutung der weltweiten Handelsbeziehungen, gerade auch für den mehrmaligen Exportweltmeister. Wurden seit Ende der 40ziger Jahre mit neuen Werten neue Segel gesetzt, so rückte Ende der 60ziger mit dem Generationenkonflikt und durch die sich immer bedrohlicher nähernde Klippe der Langzeitarbeitslosigkeit in den jüngsten Vergangenheit der Erziehungsstil ins Zentrum schulischer Überlegungen. Je mehr die Welt zum Dorf wird, die sich in der Schule trifft, umso mehr drängt sich in der Schule wieder der alte Grundsatz auf: „Non scholae, sed vitae discimus.“ Daß hierzu die Vermittlung von Schlüsselqualifikationen und Handlungsorientierung dienen, die mittels Kooperation auf allen Ebenen und in allen Bereichen angestrebt wird, versuchen das Gespräch zwischen Kalle und Ziffel sowie das Interwiew mit dem Schulleiter zu verdeutlichen. Am Ende stehen ein lebenlanges gegenseitiges von- und miteinander Lernen und das Bewußtsein, als Teil der Mannschaft im Rahmen meiner Tätigkeit als Schüler, Lehrer, Mitarbeiter der Verwaltung, Elternvertreter oder Mitglied des Fördervereins unabdingbarer und unverwechselbarer Teil dieses Schiffskörpers zu sein, der ohne mich leck schlagen/Schlagseite bekommen würde. Wenn nun der in Schiffsform gehaltene Schulneubau mit unserer Einweihungsfeier seinen vorläufigen Abschluß findet, und ehe wir die Anker zur Fahrt ins 21. Jahrhundert lichten, erinnern wir uns mit dem vorletzten Teil unserer Festschrift an die ehemaligen Kennedianer. Zum einen stoßen wir dabei auf die Lebensberichte ehemaliger Kollegen, die einen beträchtlichen Teil ihres Lebens investierten, um Schüler auf das Leben in der mitunter tosenden Brandung vorzubereiten. Zum anderen erinnern uns die Beiträge ehemaliger Schüler an Einzelschicksale, die nach dem Abschluß ihrer Ausbildung bei uns Beiwasser gingen, eigene Segel setzten, um selbstbewußt das Meer des Lebens zu durchqueren. Auch an die Ungenannten, die dabei Schiffbruch erlitten, wollen wir aus diesem Anlaß erinnern, um nicht zu vergessen, daß gemeinsame Ziele und Bildungsaufträge immer wieder neu auf jedes Individuum und auf veränderte gesellschaftliche Rahmenbedingungen ausgerichtet werden müssen. Dies mag uns Vermächtnis und Auftrag für die Zukunft sein, um dann, eingedenk der Vergangenheit, gemeinsam zeitgemäße Lösungsstrategien zu entwickeln.

Bernd Kreß


Warum John-F.-Kennedy-Schule?

Die Nachricht von der Ermordung John F. Kennedys am 22. November 1963 ging wie eine Schockwelle um die Welt. Die meisten, die jene Meldung bewußt wahrgenommen haben, erinnern sich auch heute noch genau an die Umstände, unter denen sie von der Tragödie erfuhren. Selbst Menschen, die sich zuvor nie mit Politik befaßt hatten, befürchteten, daß mit diesem jungen, in der westlichen Welt geradezu verehrten Präsidenten auch ein Teil ihrer eigenen Zukunftsperspektiven und Hoffnungen gestorben wäre.

Mit Kennedys Tod entstand sofort ein Mythos, dem sich in den folgenden Jahren kaum jemand entziehen konnte. Ein Großflughafen wurde nach ihm benannt, eine Raumfahrstation, deutsche Straßen und Plätze und eben auch unsere Schule. Für amerikanische Studenten der Protestgeneration war Kennedy eines ihrer Idole, neben Bob Dylan und Martin Luther King, bevor sich manche Ho Chi Minh zuwandten.

John F. Kennedy

Auf der anderen Seite sagen heute nicht nur unverbesserliche Zyniker, vor allem in den USA, John F. Kennedy sei vor allem durch seine Ermordung zu einem „großen“ Präsidenten geworden. In den häufig erstellten Ranglisten der bedeutendsten Präsidenten taucht er mittlerweile kaum noch auf. Im Gegenteil, schon 1988, nur 25 Jahre nach seinem Tode, wurde er bei einer Umfrage des Magazins American Heritage unter amerikanischen Historikern und Publizisten in 16% der Antworten als die meistüberschätzte Figur der amerikanischen Geschichte bezeichnet – und das Cape Kennedy heißt ja inzwischen auch wieder Cape Canaveral.

Sucht man nach Gründen für diese dramatische Prestigeeinbuße, so stößt man zunächst immer wieder auf einen entscheidenden Vorwurf: Konsequenter als seine Vorgänger verstand Kennedy sein Amt immer auch insoweit als öffentliches, als er häufig politische Inhalte zugunsten von Public-Relations-Erwägungen zurückstellte. Nur so sind seine aus heutiger Sicht beinahe schon grotesken Fehleinschätzungen in bezug auf das Schweinebucht-Abenteuer, Vietnam und die Kubakrise zu verstehen. Er scheint eben auch versucht zu haben, sein Bild in der Öffentlichkeit so zu korrigieren, daß er für seine weiteren Pläne – und für seine Wiederwahl – auch Rückhalt durch die „Falken“ würde erwarten können.

Ebenso ambivalent stellt sich heute sein Verhältnis zur Bürgerrechtsbewegung dar. Programmatisch war er zwar auf Martin Luther Kings Seite, praktisch aber, so lautet heute der Vorwurf, immer nur in den Punkten, die King ihm aufnötigte. Auch seine angebliche Freundschaft zu Kings Witwe Coretta scheint er stark instrumentalisiert zu haben. Als es darauf ankam, bekam FBI-Chef Hoover ohne Schwierigkeiten Kennedys Einwilligung zum Anzapfen von Kings Telefon. Hoovers Kenntnisse über Kennedys Privatleben mit seinen mittlerweile sattsam bekannten Affären dürften dabei allerdings keine unwesentliche Rolle gespielt haben.

Hätten wir also den Neubau zum Anlaß nehmen sollen, uns für einen neuen Namenspatron zu entscheiden? Das Protokoll eines Lehrerkonvents vom 11.12.1963 zeigt immerhin, daß schon damals große Bedenken gegen diese Namensgebung vorgebracht worden waren. Neben dem Befremden über das Verfahren – der Name wurde, an der Schule vorbei, von der Stadtverwaltung dem Kultusministerium vorgeschlagen – standen vor allem der Vorwurf der „Aktualitätshascherei“ sowie die Frage, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen Kennedy und unserer Schule gebe, im Vordergrund. Immerhin sah man im Konvent eine Seelenverwandtschaft insofern, als unsere Schule „[…] den freiheitlichsten Geist innerhalb der Eßlinger Schulen [hat].“

Aus heutiger Sicht darf eine Würdigung nicht außer acht lassen, daß er mit großer Dynamik umfassende innenpolitische Reformen initiiert hat, in einer Amtszeit von nicht einmal drei Jahren. Der Kalte Krieg war damals wesentlich ungemütlicher und prekärer, als man es sich in der Rückschau manchmal eingestehen möchte. Was aus heutiger Sicht völlig überflüssige Machomethoden politischer Hasardeure zu sein schienen, waren oft wohl eher Versuche, vermeintliche oder tatsächliche Bedrohungen einzudämmen und die Postion der eigenen Nation zu stärken. Zunächst versagte Kennedy in der Kubakrise, indem er keinen Versuch unternahm, die Krise durch Diplomatie im Vorfeld zu entschärfen, wodurch er einen sowjetischen Rückzug ohne Gesichtsverlust ermöglicht hätte. Und doch hat er es eben noch geschafft, sogar gegen das Drängen seiner eigenen führenden Militärs, mit Chruschtschow eine Übereinkunft zu erreichen, durch die beide Seiten halbwegs unbeschädigt aus dem Konflikt herauskamen.

Gefeiert wurde er dann zwar zu Recht – aber unter falschen Voraussetzungen. Darüber hinaus schuf er bei seinem Moskaubesuch die Grundlagen für die Einstellung von Kernwaffentests in der Erdatmosphäre, was unter den damaligen Bedingungen ein erstaunlicher Erfolg war.

Kennedy setzte auch – und das ist für unsere Betrachtung besonders bedeutsam – gegen den im Süden höchst populären und einflußreichen, erzkonservativen Politiker George Wallace die Zulassung farbiger Studenten zum Studium in Alabama durch. Dies hatte eine Bedeutung, die weit über den Kampf gegen einen dumpfen Rassismus hinausgeht, denn eine wirklich demokratische Gesellschaft, wie Kennedy sie schaffen wollte, kann sich keine wie auch immer gelagerten Vorurteile leisten. Sozialer und wirtschaftlicher Auf- und Abstieg müssen ausschließlich von persönlichen Verdiensten abhängen. Das schließt Standes- und Geburtsprivilegien und daraus resultierende Benachteiligungen auch und gerade im Bildungswesen aus. Kennedy, selbst ein Privilegierter, hätte es sicherlich nicht bei diesem ersten Schritt bewenden lassen, zumal gerade er die Menschen auf diesem Gebiet mit Dynamik, Charme und rhetorischer Begabung sehr leicht für seine Ziele begeistern konnte.

Kennedy war aber nicht nur Visionär, sondern auch Mahner. Oft hat er seinen Sympathiebonus in die Waagschale geworfen, um seiner Nation unbequeme Wahrheiten zu sagen.

In der ihm vergönnten Zeitspanne konnte er die meisten seiner Pläne nicht verwirklichen. Und doch bleibt das Bild eines Mannes, der es schaffte, die menschen für seine Ideale zu begeistern und seine Ziele zu den ihren zu machen. Er faszinierte als Persönlichkeit und als Politiker. Seine Vision einer gerechteren, demokratischeren Welt wurde von jungen Menschen überall enthusiastisch aufgenommen. Von einer solchen Aktzeptanz, die Brücken zwischen den Generationen baut, können Entscheidungsträger heutzutage nur träumen. Mit Kennedy starb ein Politiker, der gewiß Stärken und Schwächen hatte. Die Hoffnungen, die mit seinem Namen verbunden waren, sollten aber weiterleben. Man erinnert sich an seine Rede vor dem Schöneberger Rathaus, als er im Namen der freien Welt seine Verbundenheit mit den Berlinern ausdrückte. Wir können nun unsere Verbundenheit mit seinen Idealen ausdrücken, in dem wir in Anlehnung an seine berühmten Worte sagen: „Ich bin ein Kennedy.“

Rudi Weber


Geschichte der John-F.-Kennedy-Schule

Spannende Schulchronik?

Eine Schulchronik, interessiert das irgend jemand? Ehemalige Schüler erinnern sich an Mitschüler, an eklige oder nette Lehrer, an stinklangweilige Stunden oder auch an Momente, wo’s mal wirklich spannend wurde. Und ein Lehrer? Vielleicht tauchen in seinen Erinnerungen aus einem Meer von Tausenden von Schülern noch ein paar markante Figuren auf. Schon eher fallen ihm frühere Kollegen ein, oder das alte Schulgebäude, an dem er dieses besser, jenes schlechter als im neuen findet. „Die jungen Lehrer seh’n doch alle gleich aus“, meinte ein früherer Schulleiter trocken zum Anfänger, der etwas verdattert vor ihm saß. Wie sahen die eigentlich früher aus? Schauen wir doch einmal in die Schulchronik: 1963 präsentieren sich auf einem Gruppenbild fast alle Lehrer mit Krawatte, keine ihrer Kolleginnen trägt Hosen. Überhaupt bietet die Chronik Merkwürdiges, Erschreckendes und Lustiges. So richtig was zum Schmökern ist diese leicht angestaubte und teils vergilbte Ansammlung von Ordnern und Heftern. Da liest man im Protokoll des „Lehrerkonvents“ vom 27. Mai 1913 in gestochener „deutscher Schrift“ eine Anweisung zum 25-jährigen Regierungsjubiläum Kaiser Wilhelms II.: „Die Schüler sollen durch den gemeinsamen Gesang einiger vaterländischer Lieder zur Mitwirkung herangezogen werden.“ Ein Blick ins „Mobilien-Inventar“ 1938 enthüllt Schauriges: Im Rektoratszimmer gibt es einen Spucknapf und ein Hitlerbild. Photos vom Abiturientenjahrgang 1967 – wie die Lehrer: alle mit Krawatte! Immerhin ist so eine Schulchronik ein Stück Zeitgeschichte, und das macht sie interessant. Aber von vorn angefangen.

Von der Fortbildungsschule zum Wirtschaftsgymnasium

Eine „berufliche Schule“? Kein Mensch weiß, was das ist, außer Schülern und Lehrern, die dort lernen und arbeiten. Die Berufsschule, klar, die kennt jeder, aber die „Wirtschaftsschule“? Mit Ausprobieren, mit Durchlässigkeit und Chancen hat die Geschichte beruflicher Schulen zu tun. Auch mit Betteln und Bitten, mit zähem Einsatz für Neues. An der Geschichte der Esslinger Handelsschule läßt sich das zeigen. Also zurück ins 19. Jahrhundert. Da sind die Kaufmannslehrlinge zunächst ein Anhängsel ihrer Kollegen aus dem gewerblichen Bereich. Erst ab 1886 gibt es in Esslingen eine eigene kaufmännische Fortbildungsschule, noch ohne Schulpflicht. Französische, englische und italienische (!) Korrespondenz wurde unterrichtet, und die angehenden Kaufleute lernen „doppelte und amerikanische Buchführung“.
Gegen Fehlzeiten von Schülern, Konfliktstoff an den beruflichen Vollzeitschulen bis heute, soll entschlossen vorgegangen werden: „Ein zeitweiliges Aussetzen des Besuchs der Schule hat dauernden Ausschluß aus der Schule zur Folge; nur bei länger andauernder Krankheit kann hiervon eine Ausnahme gemacht werden.“ 1906 wird im Königreich Württemberg die dreijährige Schulpflicht für männliche Lehrlinge (für Mädchen erst 1919!) mit sieben Wochenstunden Unterricht eingeführt. Die kaufmännische Fortbildungsschule heißt ab 1909 in Esslingen Städtische Handelsschule. Erst später, etwa im Lehrplan von 1931, wird der Zusatz Kaufmännische Berufsschule verwendet.
Die „Lehrherren“ (heute „Für die Berufserziehung Mitverantwortliche“) müssen Schulgeld bezahlen. Die beiden Klassen mit insgesamt 115 Schülern unterrichtet ein einziger (hauptamtlicher) Lehrer. 1910 gibt es für 137 Lehrlinge zwei haupt- und zwei nebenamtliche Lehrer. Die Unterrichtszeiten muten heute geradezu schaurig an: morgens von 6 bis 7.30 Uhr, nachmittags von 13.30 bis 15 Uhr und abends von 19 bis 21 Uhr. Massiv wirkt sich 1916 der Erste Weltkrieg auf den Unterrichtsablauf aus: alle Lehrer werden eingezogen – bis auf einen, der dann zweieinhalb Jahre allein unterrichten muß.

Ab 1920, in der ersten deutschen Demokratie, wird’s kompliziert. Was nun einsetzt, ist die Geschichte wechselnder beruflicher Vollzeitschulen, die Schülern des dreigliedrigen Schulsystems mehr Entfaltungsmöglichkeiten und damit mehr Chancengleichheit bieten. In Esslingen wird 1920 eine (freiwillige) zweijährige Handelsvollschule eingerichtet, 1926 die Höhere Handelsschule mit einer einjährigen „Vorklasse“ für begabte Volksschüler. In die zweijährige „Mittelstufe“ können Absolventen der Vorklasse und Schülerinnen und Schüler mit einem Versetzungszeugnis in Klasse 5 einer höheren Schule aufgenommen werden, ferner mindestens vierzehnjährige Bewerber nach einer Aufnahmeprüfung. Auf der Höheren Handelsschule, deren Abschluß die Mittlere Reife bietet, gibt es neben kaufmännischen Fächern nun u.a. auch Englisch, Französisch, Geschichte, Chemie und Mathematik. Noch heute Hochaktuelles ist im Statut der Esslinger Handelsschule von 1926 nachzulesen: Der neue Schultyp soll dem „kaufmännischen Nachwuchs“ eine „höhere wirtschaftliche und allgemeine Bildung“ vermitteln. Und: „Durch den Besuch der Höheren Handelsschule wird auch die endgültige Berufswahl hinausgeschoben, so daß die Berufswahl deutlicher erkennbar wird.“ Dies gilt nach wie vor für Wirtschaftsschule und Berufskolleg.

1938 hat die Höhere Handelsschule in Esslingen 219 Schüler. Im selben Jahr wird eine Oberstufe eingeführt, Verläuferin der späteren Wirtschaftsoberschule.

1956, da gibt es schon seit vier Jahren die Wirtschaftsoberschule, entsteht die Zweijährige Handelsschule, 1967 werden Handelsschule und Höhere Handelsschule zur zweijährigen Kaufmännischen Berufsfachschule zusammengefaßt. 1969 wird an der Kennedy-Schule die zweijährige Berufsfachschule für Bürotechnik eingerichtet, die Hauptschulabsolventen vor allem Kenntnisse und Fähigkeiten in Büro- und Schreibtechnik vermitteln möchte. Ab 1978 gibt es dann das einjährige Kaufmännische Berufskolleg (Voraussetzung ist ein mittlerer Bildungsabschluß) und das Kaufmännische Berufskolleg II: Nach dem Abschluß des einjährigen Berufskollegs können Schüler hier in einem Jahr die Fachhochschulreife schaffen – ebenso wie auf dem einjährigen Berufskolleg (FH) (seit 1983), das neben der Mittleren Reife oder der Versetzung in die Gymnasialklasse 12 allerdings noch eine abgeschlossene Berufsausbildung voraussetzt.

Cord Beintmann